Ein Plädoyer für emotionale Authentizität
Negative Gefühle haben einen schlechten Ruf, und die ständige Forderung nach guter Laune kann tatsächlich krank machen. In unserer Gesellschaft wird oft reflexartig empfohlen, das Positive zu sehen oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn es jemandem schlecht geht. Doch ist das wirklich der richtige Weg?
In unserer Gesellschaft neigen wir dazu, gute Ratschläge zu erteilen und das Positive zu betonen. Doch vielleicht brauchen wir stattdessen einfach mal einen Freund, der unsere Hand nimmt, uns fragt, wie es uns geht, und uns versichert, dass er für uns da ist.
Ein Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, negative Gefühle zuzulassen: Ein Patient in einer Therapiesitzung äußert den Wunsch, dass es ihm auch mal schlecht gehen darf. Dies mag zunächst irritieren, aber ihre Erklärung bringt Licht ins Dunkel. Von Kindesbeinen an war er dazu verpflichtet, immer gute Laune zu haben und die starke Rolle in seiner Familie zu spielen. Dies führte letztendlich zu seiner seelischen Erkrankung.
Statt die Idealisierung der guten Laune zu fördern, sollten wir lernen, das Schlechtgehen anderer Menschen auszuhalten. Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass wir nicht immer die Lösung für ihre Probleme haben und oft ratlos sind. Anstatt reflexartig Ratschläge zu geben, sollten wir nachfragen und die gegebenen Antworten ernst nehmen.
Ein bitteres Bonmot bringt es auf den Punkt: „Ein Freund(in) ist jemand, der dich fragt, wie es dir geht – und auch noch die Antwort abwarten kann.“ Diese Form der Unterstützung und Präsenz ist oft wirkungsvoller als gut gemeinte Ratschläge.
Der Appell lautet, sich gegen die einseitige Propaganda der guten Laune, das Streben nach Selbstoptimierung und die zu große Ichbezogenheit zu empören. Negative Gefühle tragen wertvolle Informationen über das, was wirklich los ist, in sich. Trauer weist meist auf Verlust hin, Angst auf Bedrohung und fehlenden Schutz, Kränkungen und Zorn auf Verletzungen und Ungerechtigkeiten. Selbst schlechte Laune kann auf eine diffuse Unzufriedenheit mit etwas hinweisen, das noch nicht genauer erfasst wurde.
Es ist an der Zeit, die „unguten Gefühle“ als Teil unseres emotionalen Weltkulturguts zu akzeptieren und zu schätzen. Indem wir uns erlauben, authentisch zu fühlen und zuzugeben, dass wir nicht immer die Antworten haben, können wir eine tiefere, ehrlichere Verbindung zu unseren Mitmenschen aufbauen.
Stefan Schiefer, Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie